Die reichste Frau der Gegend


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Es gibt zum Thema „Dankbarkeit“ eine verbreitete Geschichte, in der eine alte Dame Bohnen in ihren Taschen trägt, um damit glückliche Momente festzuhalten bzw. Dankbarkeit zu üben. Ich fand die Standard-Varianten dieser Geschichte narrativ nicht so befriedigend. Hier meine „gepimpte“ Version. Darf gerne für Unterricht, Andachten usw. genutzt werden. Abdruck bitte nur mit Namen, Danke.

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In einem kleinen Dorf auf der schwäbischen Alb, da lebte vor etwas über 100 Jahren eine Frau.

Sie lebte ziemlich ärmlich, in einer kleinen Hütte, etwas außerhalb des Dorfes. Hinter dem Haus hatte sie einen winzigen Acker, und ein paar Hühner.

Davon schien sie zu leben.

Und trotzdem war überall das Gerücht im Umlauf: Das ist die reichste Frau im Dorf. Nein in der Gegend. Ja und ob wohl einer der Kaufleute in Kirchheim, oder Nürtingen – oder sogar im reichen Sindelfingen – wirklich mehr hat?

Wer weiß?

So sagte man.

Gelegentlich kam sie aus ihrer Hütte zum Dorfplatz, tauschte im Laden ein paar Eier gegen Dinge, die sie brauchte.

Und ging zurück. 

Zwei Jungs, die nach der Schule nichts zu tun hatten, schlichen ihr eines Tages nach.

Sie wollten das Geheimnis ihres Reichtums herausfinden.

Es war nicht schwer, der alten Dame zu folgen. Ihr Gang war langsam, und ihr rauer Mantel – eher eine Decke – stach mit seiner senfgelben Farbe heraus.

Sie schlichen ihr nach, von Hausecke, zu Hausecke. Das kurze Stück im Dorf. Und dann hielten sie sich an den Büschen, als es über den Feldweg zu ihrer Hütte ging.

Mitten auf dem Weg blieb die Frau einmal stehen. Auf einem Ast sang ein Vogel. Die Frau blickte nach oben und hörte zu. Nach einigen Minuten machte sie sich an ihren Rocktaschen zu schaffen, und ging weiter.

Nun schien es den Kindern, als hörten sie ein helles Klimpern, mit jedem Schritt.

Sie schlichen neugierig hinterher. Schlichen sich näher heran.

Tatsächlich: Jeder Schritt klimperte. Besonders, als die alte Dame ihr Gartentörchen öffnete und ein wenig dagegen stieß.

Die Jungs steckten die Köpfe zusammen.

„Gold!“, flüsterte einer der Jungs aufgeregt zum andern. „Wir müssen irgendwie herankommen an die Rocktasche!“

„Aber wie?“, fragte der andere. „Hm…“

„Kann ich euch etwas helfen, ihr beiden?“, fragte die alte Dame plötzlich.

Sie stand, ein wenig gebückt, vor den Jungs. Ihre Augen blickten wach und neugierig aus den runzligen Augenhöhlen.

Den Jungs hatte es die Sprache verschlagen.

Dann zeigte der eine auf die Rocktasche, die aus der Nähe auch sichtbar ausgebeult aussah.

„Wir wollen deinen Schatz sehen!“

Nun stimmte der andere ein: „Genau! Alle sagen, du bist die reichste Frau im Ort! Zeig uns deine Schätze!“

Die alte Dame lachte, dünn aber herzlich.

Sie kramte mit ihrer Hand in der Rocktasche, und zog zwei kleine, trübe Glasmurmeln heraus.

„Möchtet ihr eine haben?“

Die Jungs schauten enttäuscht und schüttelten den Kopf: „Wir wollen einen Schatz. Kein wertloses Spielzeug. Zeig uns deinen Reichtum!“

„Das ist mein Reichtum“, antwortete die alte Frau. „Seht ihr: Jeden Morgen stecke ich eine Handvoll von diesen kleinen Murmeln in meine linke Rocktasche. Und dann nehme ich, wann immer etwas Schönes passiert, etwas wofür ich dankbar bin, eine von den Murmeln und stecke sie in meine rechte Rocktasche.“

Die Kinder schauten verwirrt, aber die alte Dame fuhr fort.

„Und jeden Abend nehme ich die Murmeln aus der rechten Tasche. Und ich denke noch einmal an all die guten Dinge, die mir an diesem Tag passiert sind. Und ich bin dankbar. Selbst wenn da nur eine einzige Murmel ist: Ich bin dankbar. Und ich merke, wie reich ich eigentlich bin. Denn noch nie war die Tasche leer.“

Die alte Dame lächelte.

Einer der Jungs nickte abwesend.

Der andere runzelte die Stirn.

„Quatsch mit Soße!“, rief er, drehte um und lief davon. Der andere holte ihn schnell ein.

Als die Kinder davonliefen, blickte die alte Frau ihnen nach.

Die alte Frau hörte noch den einen sagen: „Bestimmt waren das in Wirklichkeit Diamanten, die Kugeln…“

Der andere antwortete: „Nein, nein, aber der gelbe Mantel ist bestimmt aus Goldfäden.“

„Nein, nein…“

Die Stimmen verschwanden in der Ferne, und die alte Dame schmunzelte.

Sie nahm eine der wertlosen Glaskugeln aus ihrer linken Rocktasche und steckte sie in die Rechte.

Dann ging die reichste Frau der Gegend, leise klimpernd, ins Haus.

(c)

Christian Hölzchen, nach einer verbreiteten Geschichte

Foto von Nick Fewings auf Unsplash


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